Freitag, 8. Januar 2016

Stiller Fanatismus (10)



Eines haben die von Watson angeschuldigten Liebestöter, die Identifizierung mit der Arbeit und das Bedürfnis nach „sexueller Autonomie“, gemeinsam: beide sind in hohem Maße narzißtisch motiviert.

Wir sind, was den Umgang mit Sexualität und mit Arbeit betrifft, zu Beginn des 21. Jahrhunderts also keineswegs, von „Erotik“ bestimmt, wie Sloterdijk glaubt, nicht jedenfalls von einer Erotik, die mit real existierenden Objekten zu tun hätte, und die das Subjekt nötigen würde, über die Grenzen seiner selbst hinauszugehen. Schuld am Schwund „thymotischer Tugenden“ ist, so gesehen, nicht die Dominanz des erotischen Pols, sondern – im Gegenteil – des narzißtisch-asketischen.

Daß asketisch-narzißtische Ideale zum Schwund thymotischer – und somit politischer - Tugenden geführt haben, und nicht „erotische“, zeigt sich deutlich an der tendenziellen Akzeptanz, mit der europäische Gesellschaften seit Jahrzehnten auf den Prozeß der schleichenden Rücknahme von Sozialleistungen reagieren – und hat wesentlich dazu beigetragen, daß uns Politik heute fast ausschließlich als Nicht-Politik des bloßen Verwaltens begegnet.

Es leuchtet ein, daß asketische Ideale auf Seiten der Unterprivilegierten wesentlich zur „Immunisierung der Interessen von privilegierten Gruppen“1) beitragen können – ein Zusammenhang auf den Max Horkheimer in seinem Aufsatz Egoismus und Freiheitsbewegung2) hinweist. Heute scheinen aber nicht bloß gewöhnliche Subjekte, sondern häufig auch politische Eliten von asketischen Idealen durchdrungen. Als würden - im Widerspruch zum Befund von Marx, wonach „die Gedanken der herrschenden Klasse [...] in jeder Epoche die herrschenden Gedanken [Hervorhebung von mir]“3) seien - heute, umgekehrt, die Gedanken der Beherrschten die der Herrschenden beherrschen.

„In dreiundvierzig Jahren als Wirtschaftsforscher“, schrieb Stephan Schulmeister im Juli 2015 im profil „habe ich noch nie ein solches Konzentrat an blanken Lügen wahrgenommen“4). Schulmeister bezieht sich hier auf Berichte über die Verhandlungen der von der linksgerichteten Syriza dominierten griechischen Regierung mit EU-Kommission, EZB und IWF über ein zweites Hilfspaket in Zusammenhang mit der griechischen Staatsschuldenkrise - und denkt offenbar an Behauptungen wie:

- Der griechischen Regierung wurde seitens der EU-Verhandler ein ‚großzügiges Angebot’ gemacht.

oder:

- Die griechische Regierung hat sich in den Verhandlungen nicht bewegt (das genaue Gegenteil war der Fall: die griechische Regierung, die mit dem Anspruch angetreten war, die aufgezwungene Sparpolitik - mit ihren desaströsen Folgen für die griechische Wirtschaft - zu beenden, hatte sich ständig auf die Positionen der europäischen Institutionen zubewegt. Zuletzt war sie zur beinahe vollständigen Kapitulation bereit, während sich die Institutionen praktisch überhaupt nicht bewegt hatten. Nachdem auch diese Beinahe-Kapitualtion von den Gläubigern abgelehnt worden war, sah sich die griechische Seite gezwungen, die Bevölkerung über das - von den Institutionen vorgeschlagene - Sparprogramm zu befragen).

oder:

- Die griechische Regierung hat keine Konzepte vorgelegt.

oder:

- Das Geld deutscher/österreichischer Steuerzahler würde dazu verwendet, um der griechischen Wirtschaft/der griechischen Bevölkerung zu helfen.

und ähnliches mehr.

Die (An)klage Schulmeisters dürfte sich aber vorwiegend auf die Berichterstattung im deutschen Sprachraum bezogen haben. In
US-amerikanischen Medien etwa - und auch bei zahlreichen US-amerikanischen Wirtschaftsforschern - hatten die Positionen der europäischen Verhandler, allem voran Deutschlands, für Verwunderung und Verwirrung gesorgt. „Die meisten [US-]amerikanischen Fachleute“, so der Journalist Harald Schumann vom Tagesspiegel, betrachten die Position insbesondere der Deutschen inzwischen nur noch [...] als Folklore. Für die ist diese deutsche Austeritätspolitik so etwas ähnliches wie Lederhosen und Weizenbier“,5)

wird fortgesetzt

1) Zvi Rosen, Max Horkheimer, München 1995, S. 105

2) Max Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung. In: ders., Gesammelte Schriften Bd 4, Frankfurt am Main 2009, S 9 - 88

3) Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. In: ders., MEW Bd 3, S. 46

4) Stephan Schulmeister, Der Weg in die Depression, profil vom 04. Juli 2015

5) https://www.youtube.com/watch?v=mi8RmbPAX6s

Keine Kommentare: