Dienstag, 29. Dezember 2015

Stiller Fanatismus (7)


Lucas Cranach der Ältere, Melancholie

Butlers Theorien scheinen dennoch repräsentativ für einen weit verbreiteten Typus öffentlichen Redens über Sexualität, der über den „queeren Diskurs“ (mit dem Butler normalerweise identifiziert wird) weit hinausreicht. Ein Diskurs, in dem Sexualität kaum mehr mit körperlicher Lust, mit Begehren und den Objekten des Begehrens - und schon gar nicht mit Trieben - zu tun zu haben scheint. Eine Art Sexualität ohne Sex, in dem sich Reden über Sexualität immer mehr und immer ausschließlicher in Reden über „sexuelle Identität“ verwandelt.

Allerdings würden wir Butler mit der Annahme, daß Kategorien wie Begehren oder Objekte des Begehrens in ihren Texten nicht berücksichtigt würden, Unrecht tun. So kann etwa das Kapitel Melancholy Gender ihres 1997 publizierten Buches The Psychic Life of Power1) als kritischer Kommentar zu zentralen Schriften Freuds über den Zusammenhang zwischen Liebe und Identifizierung gelesen werden, genauer und „psychoanalytischer“ gesagt: über die Identifizierung als Modus der Verarbeitung von Objektverlusten.

„Es war uns gelungen“, schreibt Freud in Das Ich und das Es, „das schmerzhafte Leiden der Melancholie durch die Annahme aufzuklären, daß ein verlorenes Objekt im Ich wieder aufgerichtet, also eine Objektbesetzung durch eine Identifizierung abgelöst wird“ [Hervorhebungen von mir]. „Damals“, fährt er fort, „erkannten wir aber noch nicht die ganze Bedeutung dieses Vorganges und wußten nicht, wie häufig und typisch er ist. Wir haben seither verstanden, daß solche Ersetzungen einen großen Anteil an der Gestaltung des Ichs hat und wesentlich dazu beiträgt, das herzustellen, was man seinen Charakter heißt“ [Hervorhebung im Original].

Wenn dem so ist, wenn der Mechanismus der Identifizierung, bei dem sich das Subjekt mit dem Liebesobjekt, das es verloren hat, identifiziert, „wesentlich dazu beiträgt, das herzustellen, was man [...] Charakter heißt“, dann, so Butlers Argumentation, müßte der „Charakter“, sprich die Identität der heterosexuellen Frau auf ihre Identifizierung mit einem weiblichen, also homosexuellen, Liebesobjekt gegründet sein, das sie dereinst aufgeben mußte. Dieses „im Ich wieder aufgerichtet[e]“ verlorene Objekt wäre dann also die Mutter. Das gleiche gilt – mutatis mutandis - für die sexuelle Identität des heterosexuellen Mannes.

Das herkömmliche psychoanalytische Denkmuster, wonach sich die heterosexuelle männliche Identität nach dem Untergang des Ödipuskomplexes auf der Grundlage der Identifizierung mit dem Vater als dem bisherigen Rivalen des Knaben bildet (und die heterosexuelle weibliche Identität auf der Grundlage der Identifizierung des Mädchen mit der Mutter als der bisherigen Rivalin) wird hier also entscheidend revidiert. Die Identifizierung, auf der die heterosexuelle Identität beruht, ist nicht die mit der Mutter/mit dem Vater als der ödipalen Rivalin/als dem ödipalen Rivalen – sondern die mit der Mutter/dem Vater als Liebesobjekt.2)

Für Butler handelt es sich hier aber nicht um die Verdrängung einer Liebe zu einem gleichgeschlechtlichen Objekt, die früher einmal real existiert hätte. Nicht etwas, das früher vorhanden gewesen wäre, wird verdrängt, vielmehr wird die Möglichkeit gleichgeschlechtlichen Begehrens als solches verworfen, also von vorne herein verunmöglicht - und zwar jedes gleichgeschlechtlichen Begehrens, nicht bloß dieses besonderen.

Nach Butler erkauft das heterosexuelle Subjekt seine Identität als Heterosexuelle(r) durch die „melancholische Einverleibung jener Liebe, die es verleugnet (heterosexual identity is purchased through a melancholic incorporation of the love that it disavows“):3)

„Der auf der Kohärenz seiner heterosexuellen Identität insistierende Mann behauptet, er hätte nie einen anderen Mann geliebt, und [diesen anderen Mann] daher niemals [...] verloren [...] Auf diesem „doppelten nie“ gründet also das sogenannte heterosexuelle Subjekt; eine Identität, die auf der Ablehnung basiert, sich zu einer Bindung [zu jenem homosexuellen Objekt, Anm. von mir] zu bekennen, das heißt auf der Ablehnung zu trauern [i.e. diese aufgegebene Bindung zu betrauern, Anm. von mir] [Hervorhebung von mir].4)

Auch wenn Butler hier das Begehren sexueller Objekte in Rückbezug auf Freud zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen macht, und sexuelle Identität mit Freud als „Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen“ auffasst - ihre Sorge scheint bei genauerem Hinsehen weniger dem Verlust des geliebten Objekts oder einer bestimmten Form des Begehrens (und auch nicht dem Verlust von Lust) zu gelten, als der durch eine heteronormative Kultur erzwungenen Weigerung des Subjekts, sich zu einer bestimmten Form des Begehrens zu bekennen (to avow). Ich werde auf diesen Begriff des Bekennens noch zurückkommen.

Weiter oben war die Rede von einer Art Objektverlust in den aktuellen Sexualitätsdiskursen. Butlers und Freuds Analysen des Zusammenhangs zwischen Objektverlust und Identifizierung (wir erkaufen „unsere“ Identität, indem wir uns mit den Objekten, die wir nicht haben können, nicht haben wollen, nicht „haben wollen können“ identifizieren), können wir nun auch als Analysen eben dieser Diskurse zu lesen versuchen. Tun wir dies, mag es uns nicht mehr als Zufall erscheinen, daß wir uns umso obsessiver mit „unserer“ sexuellen Identität beschäftigt finden, je mehr uns die Fähigkeit und die Lust, real existierende Objekte zu begehren, abhanden kommt. 

Wir werden noch sehen, daß dieser Zusammenhang vielleicht nicht bloß für unser Reden über, sondern auch für  unseren Umgang mit Sexualität gilt.

wird fortgesetzt

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1) Judith Butler, The Psychic Life of Power. Theories of Subjection, Stanford 1997, S. 132 -166

2) Freud war sich der „Unlogik“ dieses Denkmusters offenbar bewußt. Räumt er doch, nachdem er in Das Ich und das Es festgestellt hat, daß

„Nach der Zertrümmerung des Ödipuskomplexes [beim Knaben, Anm. von mir] [...] die Objektbesetzung der Mutter aufgegeben werden [muß]. An ihrer Stelle kann zweierlei treten, entweder eine Identifizierung mit der Mutter oder eine Verstärkung der Vateridentifizierung. Den letzteren Ausgang pflegen wir als den normaleren anzusehen. Er gestattet es, die zärtliche Beziehung zur Mutter in gewissem Maße festzuhalten ... In ganz analoger Weise kann die Ödipuseinstellung des kleinen Mädchens in eine Verstärkung ihrer Mutteridentifizierung auslaufen.“,

ein:

„Diese Identifizierungen entsprechen nicht unserer Erwartung, denn sie führen nicht das aufgegebene Objekt ins Ich ein [...]“ [Hervorhebungen von mir] 

Sigmund Freud, Das Ich und das Es. In ders., Gesammelte Werke, Bd XIII, Frankfurt am Main 1999, S. 260 - 261 

3) Judith Butler, The Psychic Life of Power. Theories of Subjection, Stanford 1997 S. 139

4) Ebd., S. 139 – 140 (von mir übersetzt). Im Original: „[...] the man who insists upon the coherence of his heterosexuality will claim that he never loved another man, and hence never lost another man. This "never-never" thus founds the heterosexual subject, as it were; it is an identity based upon the refusal to avow an attachment and, hence, the refusal to grieve.

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