Mittwoch, 16. Dezember 2015

Stiller Fanatismus (5)



Wie sieht es aber mit der anderen Voraussetzung der Behauptung Sloterdijks aus, die da lautet, daß wir hedonistisch sind?

Wenn wir „Hedonismus“ sagen – und wissen, daß Hedonismus mit Lust zu tun hat -, fällt uns zu „Lust“ in aller Regel zunächst sexuelle Lust ein. So als stimmten wir intuitiv mit den Lehren der Kyrenaiker – und übrigens auch mit der Psychoanalyse – überein, wonach sexuelle Lust die Grundlage jeder Lust, und die Voraussetzung eines geglückten Lebens bilde.

Ob unsere Gegenwartskultur also tatsächlich „hedonistisch“ ist oder nicht, müßte sich – wenn wir dieser unserer Intuition, den Kyrenaikern und der Psychoanalyse folgen – am besten an ihrem Verhältnis zur Sexualität festmachen lassen.

Im Januar 2015 kam es im traditionsreichen Wiener Café Prückel zur folgenden Episode. Ein lesbisches Paar, das wegen eines  Begrüßungskusses vom Kellner ermahnt worden war, und sich daraufhin bei der Chefin beschwert hatte, wurde von dieser des Lokals verwiesen. Der Vorfall geriet in die Schlagzeilen, es kam zu einer Protestkundgebung vor dem Café.

Interessant für unseren Zusammenhang ist nicht die Episode als solche, sondern die Reaktionen darauf. In Internetforen und privaten Diskussionen behaupteten Prückel-Insider, das Paar sei nicht als lesbisches Paar hinausgeworfen worden – was selbstverständlich nicht akzeptabel gewesen wäre. Vielmehr habe es sich bei jenem Kuß um „mehr als um einen Begrüßungskuß“ gehandelt - jedes Paar, auch ein heterosexuelles, das sich im Prückel „so intensiv“ geküßt hätte, wäre des Lokals verwiesen worden.

Auf diese „Aufklärung“ reagierten andere Diskussionsteilnehmer häufig mit Aussagen wie: „Ach so. Das wäre aber etwas ganz anderes.“ Oder: „So gesehen, wäre das ja nachvollziehbar“ - und ähnlichen Aussagen.

In der Haltung, die hier zum Ausdruck kommt, scheint Intoleranz gegenüber abweichendem sexuellen Verhalten akzeptabel zu sein, wenn sie vor dem Hintergrund der Ablehnung von sexuellem Verhalten als solchem stattfindet (oder von „allzu sexuellem“ Verhalten). Wobei jene Ablehnung der „Sexualität als solcher“ - im Unterschied zur Ablehnung des „abweichenden sexuellen Verhaltens“ – nicht als problematisch empfunden wird.

Interessanter als die Frage, wie repräsentativ diese Position sein mag, ist nun folgende erstaunliche Beobachtung: Die Tendenz, „sexuelles Begehren als solches“ unsichtbar machen zu wollen, die in der Prückel-Affäre das Akzeptieren von Intoleranz gegenüber dem „spezifischen Begehren“ sexueller Minderheiten möglich gemacht hat - dieses selbe Absehen(wollen) von sexuellem Begehren, wird im Rahmen der gesellschaftlichen Diskurse über Sexualität - umgekehrt - zur Bedingung der Möglichkeit der Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten.

„Heute“, schreibt Tjark Kunstreich „scheint es selbstverständlich, daß queer irgendwie alles ist, was sich selbst eine Abweichung von der Norm zuschreibt. Niemand will heute mehr normal sein, also sind alle queer.“1)  Daß queer-Sein heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, auch in konservativ-bürgerlichen Kreisen, zeigt sich augenfällig an der Akzeptanz, die der Kunstfigur Conchita Wurst alias Tom Neuwirth entgegenschlägt, die, in Österreich, nach ihrem Sieg im Eurovision Song Contest 2014, monatelang allgegenwärtig zu sein schien, „auf [...] Plakatwänden, in der TV-Werbung, als Eissorte oder als Weißwurst.“2)

Neuwirth verlangt, die Anerkennung seiner öffentlichen Persona „Conchita Wurst“ als Frau, und Respekt vor dieser seiner Maske. Ein Respekt, der ihr - nach anfänglicher Irritation ob seiner Verkleidung als zierliche Frau mit Bart - auch tatsächlich entgegengebracht wurde.

„Spätestens seit Conchita Wurst ist klar: Die Gesellschaft - selbst die österreichische – scheint, was die Akzeptanz ‚devianter’ Sexualitäten angeht, besser als ihr Ruf zu sein. Zumindest hat sich etwas getan, denn eine bärtige Frau, die noch dazu schwul ist, hätte es vor zehn oder zwanzig Jahren vermutlich nicht zum Medienstar gebracht.“3)

Diesen und zahlreichen anderen, ähnlichen Kommentaren wird man kaum widersprechen wollen. Niemanden scheint es aber zu wundern, daß als Symbol der Befreiung der Sexualität eine Kunstfigur gelten soll, die wir beim besten Willen mit Sexualität - mit Sexualität, die etwas mit sexuellem Begehren zu tun haben soll – nicht und nicht in Verbindung zu bringen vermögen. Scheint sie doch in ihrer strahlenden Reinheit und Makellosigkeit - ganz im Gegenteil - für die Befreiung von Sexualität zu stehen.

Als Woody Allen einmal gefragt wurde, ob Sex schmutzig sei, soll er gesagt haben: „Wenn er richtig gemacht wird, schon.“

wird fortgesetzt


1) Tjark Kunstreich, Dialektik der Abweichung. Über das Unbehagen in der homosexuellen Emanzipation, Hamburg 2015, S. 73

2) Wolfgang Koch, Tjark Kunstreich - Der Homosexuelle als Aufklärer. In:

http://blogs.taz.de/wienblog/2015/06/29/tjark-kunstreich-der-homosexuelle-als-aufklaerer-23/

3) Emil Flatschart, Was ist denn nun wirklich pervers?, unique, Ausgabe 06/14

http://www.univie.ac.at/unique/uniquecms/?p=4835

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