Dienstag, 15. Dezember 2015

Stiller Fanatismus (4)



Aber ist es denn überhaupt sicher, daß materielles Elend „thymotische Tugenden“, somit die Bereitschaft, sich politisch, emanzipatorisch oder gar revolutionär zu engagieren (in jedem Fall) fördert?

In seinem weiter oben zitierten Text Reflexionen zur Klassentheorie schreibt Adorno, daß eine Industrie, die „ihre Opfer an physisch Verstümmelten, Erkrankten, Deformierten“ fordere, auch das Bewußtsein zu deformieren“ drohe, um dann zu fragen, wie „die so Bestimmten zur [politischen, Anm. von mir] Aktion fähig sein sollen, welche doch nicht bloß Klugheit, Überblick und Geistesgegenwart, sondern die Fähigkeit zur äußersten Selbsaufopferung“1) verlange.

Kann es also sein, daß materielles Wohlbefinden nicht nur nicht - wie Sloterdijk behauptet - einen Schwund an politischem Interesse und Engagement bewirkt, sondern daß im Gegenteil materielles Wohlbefinden die Voraussetzung für das Interesse an thymotischen Tugenden und an politischer „Aktion“ bildet? Daß Fähigkeit und Bereitschaft zur „Aktion“ unter den Bedingungen des Elends nicht nur nicht zunehmen - sondern schwinden?

Adorno räumt allerdings ein, daß sich der Lebensstandard der Arbeiter „gegen die englischen Zustände vor hundert Jahren“ (er schrieb dies 1942) signifikant verbessert hätte, so daß „die Proletarier“, wie er in Anspielung auf das Kommunistische Manifest von 1848 konstatiert, „mehr zu verlieren [haben] als ihre Ketten ... Kürzere Arbeitszeiten, bessere Nahrung, Wohnung und Kleidung, Schutz der Familienangehörigen und des eigenen Alters durchschnittlich höhere Lebensdauer“2).

Sloterdijks Rede von den „materiellen Vergütungen“ macht, so gesehen, also Sinn – wiewohl für Adorno, anders als für Sloterdijk, die verbesserte Lebenssituation nicht mit einer Art List der „Erotik“ in Zusammenhang steht, sondern mit der Entwicklung der „technischen Produktivkräfte“ – und des modernen Sozialstaats, dessen Anfänge in Deutschland auf Bismarcks Sozialgesetze zurückgehen, verabschiedet in der dezidierten Absicht, revolutionäre Umtriebe der organisierten Arbeiterschaft zu verhindern.

Adorno schrieb die Reflexionen zur Klassentheorie vor einem Dreivierteljahrhundert. Seither haben sich die „technischen Produktivkräfte“ natürlich weiterentwickelt - und der Sozialstaat (dessen Entwicklung unter der nationalsozialistischen „Gefälligkeitsdiktatur“3) einen Höhepunkt erreicht hatte) wurde bis in die 1970er Jahre – und nicht zuletzt aufgrund der Systemkonkurrenz zwischen den kapitalistischen und den realsozialistischen Staaten - weiter ausgebaut. Danach setzte ein Prozeß der schrittweisen Rücknahme von Sozialleistungen ein, der in Deutschland, spätestens nach dem Fall der Mauer, in einen regelrechten Sozialabbau mündete - und seinen augenfälligsten Ausdruck im Workfare-Programm Hartz IV fand: der „Abkehr vom sozialstaatlichen Ziel der Statussicherung hin zum Ziel der Existenzsicherung.“4)

Das alles bedeutet zwar keinen Rückfall in „englische Zustände“ des 19. Jahrhunderts – allerdings beraubt die Konfrontation mit diesen Tatsachen Sloterdijks Behauptung, wonach wir uns, unseres Hedonismus wegen, „bestechen“ lassen und unsere „thymotische Seele“ verkaufen würden5), einer wesentlichen Voraussetzung: hätten unsere „thymotischen Tugenden“ und unser Interesse an politischer Aktion - da sich die „Bestechungssumme“, die uns den Stolz abkaufen soll, seit Jahrzehnten verringert - nicht eher zunehmen als schwinden müssen?

wird fortgesetzt


1) Theodor W. Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8 , Frankfurt am Main 2003, S. 388

2) Ebd. S. 384

3) So der Historiker Götz Aly, Autor des Buches Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus in einem Spiegel-Artikel vom März 2005, wo es u.a. heißt: „Materieller Ausgleich und soziale Aufwärtsmobilisieurng [...], kollektiver und schnell spürbarer Wohlstand für das Herrenvolk auf Kosten sogenannter Minderwertiger, so lautete die wenig komplizierte, in Deutschland populäre Zauberformel des NS-Staats“. 


4) Hans Otto Rößer, Krieg dem Pöbel. Die neuen Unterschichten in der Soziologie deutscher Professoren.

http://www.nachdenkseiten.de/?p=3503 

5) Bzw. jene von uns, die direkt oder indirekt vom Wohlfahrtsstaat profitieren.

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