Donnerstag, 26. November 2015

Stiller Fanatismus (1)


Denis Diderot
Der Mann auf der Mauer

„Die Belagerten waren dazu übergegangen, gekochtes Gras und die Scheiden ihrer Schwerter zu essen und aus gemahlenen Knochen Mehl herzustellen ... Der Mann auf der Festungsmauer hatte sein Schwert über seinen weißen Umhang geschnallt. Um seinen Kopf trug er ein weißes Band – und der Moslem, dem sicheres Geleit zugesichert worden war, um den Mann mit nach Hause zu nehmen, erschrack als er dessen Gesicht sah, das ihm entflammt und unnachgiebig erschien ...
Der Moslem versuchte den Mann zu bewegen, mit ihm nach Hause zurückzukehren.
„Komm mit!“, sagte er, „Dein Sohn, der kleine Rahman, hat Sehnsucht nach Dir.“
„Sag ihm“, sagte der Mann auf der Mauer, „daß mein Herz von der Liebe zum wahren Rahman erfüllt ist [in der islamischen Tradition ist Rahman einer der 99 Namen Gottes, Anmerkung von mir]. Und daß diese Liebe keinen Platz für eine andere läßt“.
Der Moslem begann zu weinen.
„Möge Gott Dir beistehen“, sagte er.
„Er ist mir schon beigestanden“, sagte der Mann auf der Mauer, „wie sonst hätte ich zu dieser erhabenen Festung gelangen können?“1)

Die Festung, von der hier die Rede ist, die Tabarsi-Festung im waldreichen Norden Irans, war 1848 Schauplatz eines monatelangen blutigen Kampfes zwischen den Regierungstruppen und den Anhängern der Babi-Religion, einer messianischen Bewegung, deren Anhänger an die unmittelbar bevorstehende Wiederkunft des schiitischen Messias glaubten, ähnlich wie die Anhänger Johannes des Täufers an das bevorstehende Erscheinen des Erlösers. Der Mann auf der Festungsmauer – der Vater des kleinen Rahman – war einer dieser Gotteskrieger.

Diesem Mann, den wir als Prototyp eines Fanatikers empfinden, begegnen wir, Europäer des frühen 21. Jahrhunderts, ähnlich wie wir den Gotteskriegern des Islamischen Staates begegnen: Mit einer Mischung aus Erstaunen, Angst und Abscheu – aber möglicherweise auch Neugier, Faszination, und mitunter vielleicht sogar Neid.

Eines scheint uns dabei klar zu sein: Daß uns, wie wir uns selbst wahrnehmen, vom Fanatismus dieser Gotteskrieger Welten trennen. Uns, die wir uns als materialistisch und hedonistisch wahrzunehmen gewöhnt sind. Uns, die wir unsere Position dem Glauben gegenüber zwar nicht als ablehnend, aber als entspannt bis distanziert beschreiben würden.

Allerdings müßte es uns stutzig machen, daß die Begriffe hedonistisch und materialistisch in unserer Alltagssprache immer stark negativ besetzt sind. Und es stellt sich die Frage, wie es möglich sein kann, daß wir, angeblich von Materialismus und Hedonismus Durchdrungene, diesen uns angeblich durchdringenden Materialismus und Hedonismus, zugleich ausnahmslos schlecht finden.

„Materialismus“ und „Hedonismus“ sind Begriffe, die unsere Alltagssprache von der Philosophie übernommen hat – dort allerdings haftete ihnen keineswegs immer jener, uns selbstverständlich erscheinende, negative Beigeschmack an.

Als Begründer des philosophischen Hedonismus - hedonè ist das altgriechische Wort für Lust - gilt Aristipp von Kyrene. Der breiten Öffentlichkeit, im Unterschied zu seinem Lehrer Sokrates oder seinem „Mitschüler“ Plato, so gut wie unbekannt, auch wenn Christoph Martin Wielands schöner Roman „Aristipp“ ihn eine Zeit lang ins Blickfeld der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu rücken vermochte - bevor dann Wieland selbst in Vergessenheit geriet.

Ohne starke Verankerung in der Lust, – so die Essenz der dem Aristipp und seinen Schülern, den Kyrenaikern, zugeschriebenen Ethik, kein geglücktes Leben. Wobei die Lust des Körpers, die Aristipp als „sanfte Bewegung“ charakterisiert, der Vorrang vor der intellektuellen, wie wir heute sagen würden, „sublimierten“ zukommt.

Historisch – nicht allerdings gedanklich - näher sind uns Denis Diderot und sein Freund Baron Thiry d’Holbach, Vertreter eines aufgeklärten Hedonismus im Paris des 18. Jahrhunderts. Auch sie sind - als Philosophen - in Vergessenheit geraten. Diderot ist uns zwar als Enzyklopädist und als Schriftsteller ein Begriff, nicht aber als zentrale philosophische Figur einer Aufklärung, die diesen Namen verdient. Daß wir, wenn wir heute „Aufklärung“ sagen, an den geistreichen, aber opportunistischen und intriganten Voltaire, oder an den Anti-Aufklärer Rousseau denken, oder auch an Kant, der es als seine Aufgabe sah, „das Wissen auf[zu]heben, um zum Glauben Platz zu bekommen“2), nicht aber an die radikalen, weil konsequenten Aufklärer d’Holbach und Diderot, ist das Ergebnis eines gesellschaftspolitisch- ideengeschichtlichen Verdrängungswettbewerbs - mit weitreichenden Folgen für die Verfaßtheit der Gegenwart.

Die Annahme, daß zwischen dieser - mit Philipp Blom zu sprechen -„Kastration der Aufklärung“3) und dem miserablen Ruf von Materialismus und Hedonismus4) in der Gegenwartskultur ein Zusammenhang existiert, ist durchaus berechtigt.

wird fortgesetzt

1) frei übersetzt aus Marzieh Gail, Dawn Over Mount Hira:

http://bahairesearch.com/english/Baha'i/Baha'i_Studies/Marzieh_Gail/Dawn%20Over%20Mount%20Hira.aspx

2) Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1966, S. 38

3) Mündliche Mitteilung. Vgl. auch Philipp Bloms ungemein aufschlußreiches Buch Böse Philosophen, München 2011

4) Und dem bemerkenswert schlechten Ruf des Atheismus, wie hinzugefügt werden muß.

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