Dienstag, 30. Dezember 2014

Warum die Vergangenheit nicht vergeht (vormals: 'Warum wir immer dümmer werden') (14)


Eugène Thivier, Le cauchemar (Der Albtraum)

Im Gegensatz zu den Toten der Biokosmisten, denen wir Lebende etwas schulden, wäre der tote Gott des Islamisten also ihm etwas schuldig. Weil sich aber der Ort seines Gottes als Ort des Mangels herausstellt, verwandelt sich der uneingestandene Zweifel des Fundamentalisten in Verzweiflung. Es ist die verzweifelte Wut über die Ohnmacht eines toten Gottes, die Phänomene wie die Islamische Republik Iran oder den Islamischen Staat gebiert.

Demnach hätte es der Islamist mit einem doppelten Mangel zu tun: Der gegenwärtige Mangel (die traumatisch erlebte Ohnmacht der islamischen Welt) wird zum Auslöser seiner Rückwendung zum frühen Islam, wo er erst recht wieder dem Mangel (dem frühen Mangel als Ursache des gegenwärtigen) begegnet.

Paradoxerweise ist es aber gerade diese Struktur der doppelten Unerlöstheit, die Licht auf Benjamins dunkle Rede von der Erlösung der Vergangenheit zu werfen vermag - und auf das Phänomen der revolutionären Regression als solche: Zu erlösen ist nicht die „vergangene“, tote Vergangenheit - sondern die untote. Jenes Noch-immer, dem mein frustrierter Freund sein beschwörendes Doch-schon-2014 entgegenschmetterte: Die unvergangene Vergangenheit, welche die Gegenwart an der Erlösung hindert.

Um Benjamin zu verstehen, müssen wir ihn also auf den Kopf stellen: Die Erlösung der Vergangenheit ist nicht der zweite, der Erlösung der Gegenwart folgende Schritt. Vielmehr bildet die Erlösung der - unvergangenen - Vergangenheit die Voraussetzung für die Erlösung der Gegenwart. Bedeutet sie doch die Erlösung der Gegenwart von dem Unvergangenen in ihr. Die Heilung des noch immer nicht verwundenen Traumas, das in Epochen revolutionärer Krise schon wieder zurückkehrt22. Der flash back als Heilungsversuch.

Auch wenn sie es nicht wissen: Den Revolutionären geht es nur scheinbar darum, der Vergangenheit „Name, Schlachtparole [und] Kostüm“ zu entlehnen. Sie kehren zu jener Vergangenheit zurück, um sie zu überwinden, die Gegenwart von ihr zu erlösen.

Im Fall des Islamismus entgleist dieser Heilungsversuch allerdings. Die unvergangene Vergangenheit kehrt, statt überwunden zu werden vollends zurück - und überwindet ihrereseits die Gegenwart. Der flash back wird zur Halluzination.

Weiter oben sprachen wir von unserer Phantasie, daß es sich bei Phänomenen wie dem Völkermord im Islamischen Staat oder den theologisch motivierten Vergewaltigungen in den Gefängnissen der Islamischen Republik um die Wiederkehr einer barbarischen Vorzeit handelt, dann von der These, daß wir, um diese Schreckensvision zu bewältigen, den politischen Islam in ein zeitgemäßes Gewand zu kleiden versuchen – und schließlich von unserem Zweifel an dieser These: Könnte es nicht sein, daß es sich umgekehrt verhält? Daß die Jihadisten in Wahrheit Zeitgenossen sind, die sich als archaische Gotteskrieger kostümieren?

Unsere Denkbewegung hat uns ausgehend vom Phänomen revolutionärer Beschwörungen der Vergangenheit, über den Regressionsbegriff in der Traumdeutung und eine Neuinterpretation der These Benjamins von der Erlösung der Vergangenheit zum Begriff der unvergangenen Vergangenheit geführt: Jenes oft verborgene Noch-immer, das nicht und nicht aufhören will, uns als Schon-wieder zu begegnen.

Wenn Adorno davon spricht, daß bei Marx Ausdrücke wie Lohnsklaverei - für die freie Lohnarbeit - nie bloß metaphorisch gemeint sind, hat er diesen historischen Wiederholungszwang im Blick. Er nennt ihn „Konstanz von Vergängnis“ und zählt die Gestalten auf, die er annimmt: „Herrschaft, Unfreiheit, Leiden, die Allgegenwart der Katastrophe“23.

Phänomene wie die Massenmorde des Islamischen Staates oder die theologisch motivierten Vergewaltigungen in der Islamischen Republik sind Albträume aus einer barbarischen Vorzeit, die wir fern und vergangen wähnten. Nach dem Aufwachen mag es uns gelingen, den Traum auf jene Bestandteile zu reduzieren, die an die Ereignisse des Vortages – Freud nennt sie Tagesreste – anknüpfen. Und so den unheimlichen Gedanken an dessen Abkunft aus jener vergangen geglaubten Vergangenheit zu verscheuchen. Vergessen wir aber nicht, daß es nicht nur eine Flucht aus der Realität des Wachzustands in die Scheinwelt des Traums gibt, sondern auch eine Flucht aus der Realität der Albträume in die Rationalität des Wachzustands.

Ende

22 Ein anderer Aspekt der Rückkehr vergangener Traumen in Epochen revolutionärer Krise erhellt sich, wenn wir die Benjaminsche These zusammen mit Freuds Theorie der Nachträglichkeit lesen: Bestimmte Traumata werden erst nachträglich zu Traumata. Erst ab einer bestimmten (durch die revolutionäre Krise repräsentierten) Stufe „historischer Entwicklung“ stehen einer Gesellschaft jene Deutungsinstrumente zur Verfügung, die sie befähigen, jene Traumata überhaupt als solche wahrzunehmen. Ähnlich wie bei Freuds Patientin Emma, bei der ein Übergriff in der Kindheit erst nachträglich (nach der Geschlechtsreife) zu einem sexuellen Trauma wurde. Siehe auch den Artikel Emma und die Revolution im Iran in diesem blog.

23 Theodor W. Adorno: Soziologische Schriften I. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd 8, Frankfurt am Main 2003, S. 234

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