Samstag, 12. November 2011

Wunderland 34





Alles wird von der Mode geregelt, sagte der Militärschneider










"Zehn Tage später hatte ich den ersten Teil meines Trainings beendet, und durfte das Lager, oder mußte es, verlassen. Ich marschierte mit anderen Kandidaten der Mädchenweihe zu jener Schleuse, die wir nach einem halben Tagesmarsch erreichten. Unsere Trainer – Visagisten, Kleidermacher, Psychoanalytiker, ein Masseur sowie die Professorin und Teheraner Feministin höchstpersönlich – hatten uns empfohlen, uns nach dem Betreten der Schleuse die Augen zu verbinden, was wir auch taten.

Der Abschied von der Professorin und Teheraner Feministin gestaltete sich ganz unzeremoniös, wie man in den Bergen gesagt haben würde, noch unzeremoniöser gestaltete sich der Abschied von dem Mädchen“, der Junge schaute, ganz angestrengt, in sein Bier, als könnte er im Bier seine Vergangenheit sehen, „als sich das Mädchen auf den Weg in das Lager machte, d.h. in das Zentrum des Lagers, hatten wir überhaupt nicht an Abschied gedacht, und schon gar nicht für immer.

Man brachte uns Kandidaten, mit verbundenen Augen, in die besagte Kaserne in Nord-Teheran, in dem das Pilotprojekt stattfinden, und welches das erste der Mädchenhäuser beherbergen sollte - dazu kam es aber nicht.
In der Kaserne ging es wie in einer Kaserne zu, mit Tagwachen, Stockbetten, Schlafsälen, und Spinden, die man regelmäßig inspizierte. Außer uns ‚Mädchen‘ gab es nur ‚Trainer‘, die Soldaten zu sein schienen, sie trugen jedenfalls Uniformen, auch wenn ihr Benehmen alles andere als soldatisch erschien. Mal feierten sie - teils für sich, teils mit uns – die Nacht, oder mehrere Nächte hindurch, tanzten, sangen, und sauften vor allem, und kifften auf Teufel komm raus. Es gab das Gerücht, daß sie, wenn sie für sich feierten, die besten Huren Teherans kommen ließen. Daß sie die Huren vor uns geheim hielten, war wohl ihrem Bemühen geschuldet, unsere keimende Identität als Mädchen nicht zu gefährden. Dann legten sie wieder die scheußlichste Kasernenpedanterie an den Tag, und drohten bei der geringsten Unordnung in unseren Spinden mit grausamen Strafen durchwegs körperlicher Natur, aber sie rührten uns niemals an, als wären wir schon Mädchen, die man mit Zartgefühl zu behandeln hat, und die man notfalls bedrohen, aber nicht anfassen darf.

Auch verfügten die ‚Trainer‘ in unserer Kaserne über keine der Kompetenzen der Trainer im Lager. Weder gab es Psychoanalytiker unter ihnen, noch Kleidermacher, noch Visagisten, oder doch einen Kleidermacher, den sie Militärschneider nannten, und der wie der schnauzbärtige Athletische aussah (der nun mein Kurs- und Schlafsaal-Kollege war) ohne aber athletisch zu sein. Der Militärschneider hatte den Auftrag Uniformen für uns zu entwerfen, welche zwar einerseits - weiß Gott warum - als Militäruniformen erkennbar sein sollten, sich andererseits aber von den Militäruniformen der ‚Trainer‘ unterscheiden sollten. Das alles wußten wir, weil uns der Militärschneider regelmäßig in Werkstattgesprächen, wie er sie nannte, Einblicke in seine Arbeit zu geben versuchte. Er saß in einer Art Klassenzimmer auf einem Tisch, neben sich einen Stapel Modezeitschriften aus Teheran und Paris. Wir hegten den Verdacht, daß er vom Schneidern und von der Mode keine Ahnung hatte, aber er redete viel, und schien belesen zu sein. Alles wird von der Mode geregelt war sein Lieblingszitat, das er einem Pariser Schriftsteller des 17. Jahrhunderts zuschrieb. Und am Ende eines jeden Werkstattgesprächs mußten wir ihm die folgenden Zeilen oder Verse nachsagen:

Es gibt keine Mode außer der Mode

Beständig in der Unbeständigkeit

Vollkommen in der Unvollkommenheit

Macht der Modische, was die Anderen machen, um anders zu sein als die Anderen


Diese Zeilen oder Verse nannten meine Mit-Kandidaten das Bekenntnis des Militärschneiders resp. das Mode-Gebet, und als einer der Kameraden sich über das Mode-Gebet einmal lustig machte, wurde uns tags darauf mitgeteilt, daß wir nach dem Aufstehen und vor dem zu Bett gehen das Mode-Gebet aufzusagen hatten, so wie wir im Lager nach dem Aufstehen und vor dem zu Bett sagen mußten, daß wir es liebten, Mädchen zu sein. Da dämmerte es uns, wie mächtig der Militärschneider war, den wir für einen Clown gehalten hatten".

wird fortgesetzt

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