Montag, 3. Januar 2011

Wunderland, 25





Der Bauhaus-Licht-Raum-Modulator (gebaut von László Moholy-Nagy)

"Als sie mir die Augenbinde abnahmen, war es schon dunkel. Sie hatten mich aus dem Auto gezerrt und auf eine Wiese gestellt. Ich war allein. Die Landschaft, in die sie mich hingestellt hatten, schien nicht mehr Teheran zu sein, und hätten die Menschen dort nicht die Sprache Teherans gesprochen, ich hätte geglaubt, ich sei in Kanada. Ich stand auf einer Wiese, vor mir eine Hügellandschaft, die teils aus kahlen Hügeln bestand, wie es sich bei Tageslicht herausstellen sollte, teils aus grünen, mit Tannen und Föhren. Ich drehte mich um, und sah, etwas tiefer, eine Ansammlung flacher Gebäude, die an die Campus von Universitäten erinnerte. Von dort her war eine Musik zu hören, oder mehrere Musiken, die ich nicht einordnen konnte. Weder handelte es sich um klassische noch um moderne westliche, noch um Musik aus Teheran. Zwischen den Gebäuden waren allerlei Lichter, als fände dort unten ein Fest statt. Ich schaute hinauf. Auch der Himmel war ein anderer als über Teheran, ich hatte Sterne am Himmel noch nie so leuchten gesehen, und im Licht der Sterne schienen sich die Lichter von unten zu spiegeln.


Von der Wiese führten Stufen zu einem Sportplatz hinunter, einem Basketballfeld, umgeben von niedrigen Häusern, Speise- und Schlafsäle, wie man mir später erklärte, und vom Sportplatz weitere Stufen zu einem  Asphaltweg, zwischen Föhren und Tannen, ich gelangte zu einer weiteren Wiese, in einem Park. Der Abend war lau. An den Bäumen hingen Glühbirnen und Laternen. Links von der Wiese war ein modernes Gebäude, ein Veranstaltungssaal, wie sie mir später erzählten - Amphitheater genannt. Auf der Wiese standen Klappstühle, auf denen Mädchen und Jungen saßen, die aussahen wie Mädchen und Jungen im Teheran der 70er Jahre, zum Teil wie Hippies, keinswegs wie religiöse Faschisten, die Atmosphäre war wie bei einem Happening, aber feierlich. Alle sprachen, und schauten zugleich, gebannt, auf einen leuchtenden Kubus, eine Art Leinwand, auf dem sich Formen und Farben im Rhythmus einer Musik ineinander verschoben.


Ich setzte mich. Irgendwann hatte sich ein Mädchen neben mich gesetzt, oder sie war schon dort, als ich mich hingesetzt hatte, was wahrscheinlicher ist, und ich hatte sie in der Halbdunkelheit nicht bemerkt. Was ist das - hier?, fragte ich. Das Mädchen, das meine Frage auf die Darbietung auf dem Kubus bezog, nahm einen Zettel zur Hand, und begann vorzulesen:


Reflektorische Farblichtspiele: Der von Kurt Schwerdtfeger, einem Bildhauer am Weimarer Bauhaus konstruierte Lichtspielapparat besteht aus einer Anzahl dimmbarer Scheinwerfer, Farbfiltern und Masken in geometrischen Grundformen. Masken und Filter werden vor die Scheinwerfer geschoben, welche ebenfalls auf einem Gestänge beweglich angebracht sind ...

- Und warum bist Du hier?


- Wegen Freud.


- Wegen Freud … ich wegen Marx.


- Und - was ist das hier überhaupt?

- Das? Ein Lager-Versuch.

- Ein Lager-Versuch?

- Lager-Versuch - wie es Schul-Versuche gibt. Ein Umerziehungslager. Aber ein besonderes. Wir haben Glück. Hier experimentieren die Reformer unter den religiösen Faschisten - sie nennen sich religiöse Avantgardisten - mit neuen, reformpädagogischen und ganzheitlichen Methoden der Umerziehung von großteils jungen, politisch irregeleiteten Menschen - wie du und ich. So dumm sind die religiösen Faschisten nämlich nicht, wie wir glauben.

Eh nicht, sagte ich. Oder hätte ich gesagt, hätten wir uns nicht auf Teheranisch unterhalten, sondern auf Deutsch, und hätte ich schon damals, den Provinz-Dialekt der Deutschsprachigen Berge gesprochen, wie jetzt."
wird fortgesetzt

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