Donnerstag, 3. Januar 2008

Erika



Erika war zum einen eine in der DDR allgegenwärtige Schreibmaschine, ein Produkt des VEB Schreibmaschinenwerks Dresden - und heute eines der begehrtesten Objekte der Ostalgie.

Zum anderen ist Erika (Erica, Heidekraut) eine große Pflanzengattung in der Familie der Heidekrautgewächse (Ericaceae). Die frostharten Arten sind in Europa sehr beliebte Gartenpflanzen.


Last not least ist Erika ein Text von mir aus den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts.


Erika

Im Fernsehen läuft ein Film über einen polnischen Jungen, der irgendwo in Nazi-Deutschland einen Hühnerstall angezündet hat und jetzt wegen Zersetzung der Wehrkraft des deutschen Volkes zum Tod verurteilt werden soll. Gerade sagt er seinem Pflichtverteidiger, daß er die Tat begangen habe, um nach Hause, nach Polen, zurückgeschickt zu werden. Der Junge ist siebzehn. Ich habe zu spät eingeschaltet, ich begreife die Zusammenhänge nicht. Vielleicht war der Junge irgendwo in Nazi-Deutschland als Zwangsarbeiter eingesetzt gewesen.

Im November ist es in München saukalt. Ich hätte es wissen müssen, ich bin nicht zum ersten Mal hier. Dreimal im Jahr, im Februar, im Juli, im November, fahre ich nach München zur beruflichen Weiterbildung. Es geht um Schizophrene und andere Geisteskranke. Ich bin Psychiater von Beruf.

Das Zusammentreffen mit Erika war unerwartet geschehen, obwohl ich gewußt hatte, daß sie an der Tagung teilnehmen würde, obwohl wir uns - sie mir im September, ich ihr im Oktober - geschrieben hatten, obwohl ich sie am Abend vor der Tagung von der Grenze aus angerufen hatte, obwohl ich eher der Erika wegen dreimal im Jahr, im Februar, im Juli, im November, nach München fahre als wegen der Tagung.

Ich war zum ersten Vortrag am Samstagvormittag zu spät gekommen. Unten war der Vortragende hinter einem hohen Rednerpult vor einer langgezogenen grünen Tafel gestanden. Man hatte nur seinen Kopf und die obere Brustpartie sehen können. Ich war mir ziemlich hoch oben vorgekommen, wie wenn ich Höhenangst haben müßte. Links von mir, auf dem ersten Sitzplatz in der zweiten Sitzreihe, war jemand gesessen. Ich hatte, weil die Person mir den Rücken zugekehrt hatte, nicht erkennen können, ob es sich um eine Frau oder um einen Mann gehandelt hatte. Ich hatte sie gebeten aufzustehen, damit ich mich an ihr vorbeizwängen und auf dem freien Sitzplatz neben ihr setzen könnte. Die Person, die aufgestanden war, war Erika gewesen.

In den Gängen des Gefängnisses in dem der polnische Junge untergebracht ist, erzählt der eine Gefängniswärter dem anderen eine philosophische Parabel: "Der Richter sagt dem Todeskandidaten: 'Heute ist Montag. Wir werden Sie noch diese Woche hinrichten, spätestens am Sonntag. Aber es wird eine unerwartete Hinrichtung sein, weil Sie erst am Morgen der Hinrichtung davon erfahren werden. Der Todeskandidat freut sich, nachdem er eine Weile überlegt hat. Er sagt sich: 'Man wird mich gar nicht hinrichten können. Der Richter hat gesagt, daß ich unerwartet hingerichtet werde und daß es spätestens am Sonntag geschehen würde. Also kann man mich nicht am Sonntag hinrichten. Denn wenn ich am Samstag abend noch lebe, erwarte ich mit Sicherheit, daß ich am Sonntag hingerichtet werde. Also fällt der Sonntag als Tag der Hinrichtung weg. Man wird mich aber auch nicht am Samstag hinrichten können, denn, da der Sonntag ausfällt, werde ich, sollte ich am Freitag abend noch leben, mit Sicherheit erwarten dürfen, daß ich am Samstag hingerichtet werde, da die Hinrichtung innerhalb dieser Woche stattfinden muß und der Sonntag als Hinrichtungstag ausfällt. So fällt aber auch der Samstag aus, weil er kein unerwarteter Hinrichtungstag sein kann. Für den Freitag und alle anderen Tage gilt dasselbe, so daß ich weder am Donnerstag, noch am Mittwoch, noch am Dienstag , also gar nicht hingerichtet werden kann.
"Am Mittwoch", fährt der eine Gefängniswärter fort, "wird der Todeskandidat abgeholt und hingerichtet. Er hatte die Hinrichtung nicht erwartet, der Richter hatte die selbst aufgestellten Bedingungen erfüllt."


Erika hatte kurze Haare gehabt. Ich hätte denken können: „Sie schaut aus, wie ein gerupftes Huhn.“ Oder auch: „Sie schaut aus wie ein stilles, gerupftes Huhn“, weil sie während des ganzen Vortrags, der sie - wie ich später erfahren hatte - nicht im geringsten interessiert hatte, kein Wort gesagt hatte, so daß auch ich ganz stumm dagesessen war, bis zum Ende des Vortrags, weil ich überzeugt gewesen war, daß das Sprechen während eines Vortrages, auch wenn man sich nach Monaten wiedersieht, für Erika verboten sei, und folglich auch für mich. Am Sonntag bevor wir uns verabschiedeten, erzählte sie mir, daß direkt hinter unseren Köpfen ein Mikrophon installiert gewesen war, für Fragen der Teilnehmer während der Diskussion. Hätte sie etwas gesagt, hätte es der ganze Hörsaal gehört.

In den Fall-Seminaren sitzt sie neben mir. Wenn ich annehmen kann, daß sie es nicht bemerkt, schaue ich sie von der her Seite an. Sie sitzt da, mit großen Augen, die nicht fragen, die bloß registrieren, daß es außerhalb ihrer selbst eine Welt gibt, vielleicht nicht einmal das.

Der Pflichtverteidiger des polnischen Jungen wirkt sympathisch, obwohl es sich um einen polnischen Film handelt und er einen Deutschen darstellt. Er sagt dem siebzehnjährigen Jungen, der aussschaut wie zwölf, höchstens dreizehn, daß er es sich gar nicht vorstellen könne, daß ihn das Gericht zum Tode verurteilen würde, weil es das Gesetz über die Zersetzung der Wehrkraft des deutschen Volkes zum Tatzeitpunkt nicht gegeben habe, und das Jugendstrafgesetz des weiteren ein solches Strafausmaß gar nicht zulassen würde. Ich möchte den Kanal wechseln, aber ich liege im Bett in meinem Einzelzimmer im Hotel Jedermann in der Bayernstraße und habe keine Fernbedienung zur Hand.

Nach den Seminaren gehen wir nebeneinander durch die Straßen. Es ist Nachmittag. Die Menschen und die Dinge sind sichtbar, also muß es Licht geben. Aber ein Licht dessen Dasein nicht einleuchtet. Es bedarf einiger Anstrengung, um die Existenz dieses Lichtes an diesem frühen Novembernachmittag zu denken.

Im Café schaut sie an mir vorbei. Nichts ist da. Was aber da ist, ist ihr magerer Hals mit der einen hervortretenden, gerade verlaufenden Vene, das im Vergleich zur oberen Gesichtspartie schmale Kinn, die großen hellen Augen, die unterhalb der Iris noch ein gutes Stück weitergehen. Ich hätte denken können: „Ihre Augen sind groß, weil sie, als sie entstanden sind, Angst hatten, etwas zu versäumen“. Was
weiters da ist: Die hohe von den graublonden Haaren, die aneinander zu kleben scheinen, verdeckte Stirn. Die Wölbung von Erikas Augenbrauen, wenn sie lächelt. Das Lächeln und die gleichzeitige Wölbung der Augenbrauen, die mir vertraut sind, aber nicht verständlich, so wie die Melodie einer fremden Sprache, die man täglich hört, vertraut ist, aber nicht verständlich.
(Tage später sehe ich Antoine Watteaus "Pierrot, genannt Gilles" in einer Ausstellung im Haus der Kunst. Es ist ein ganz anderes Gesicht aber Erikas Gesicht, wenn sie lächelnd die Augenbrauen wölbt, verwandt. Auch dieses Gesicht ist vertraut und unverständlich. Aber mit seiner Unbestimmtheit und Einfältigkeit und mit seinem vagen Staunen weniger unverständlich als Erikas Gesicht.)

Was nicht da ist: Der Glanz um Erika herum. Der Glanz, der sie in den Augen anderer nicht umhüllt, sondern zusammengehalten hat, weil die anderen das, was Erika im Inneren zusammenhält nicht sehen. Deshalb geht die Erika jetzt - gerupft, stumm, glanzlos - den Augen der anderen verloren, und deshalb geht sie auch meinen Augen verloren (weil auch ich einer von den anderen bin) wie ein Kind, vier, oder fünf, kein Junge, und kein Mädchen, ein Kind einfach, mit einer hohen Kinderstirn und einer Pudelmütze, das einem anvertraut wird in einem Traum von einem Schneesturm, und das man an der Hand hält und aus der Hand verliert, immer und immer wieder, und jedesmal für ewig, an den Schneesturm. (Man ist hoch oben in diesem Traum, wie wenn man Höhenangst haben müßte, weit davon entfernt, den Boden der Talsohle unter den Füßen zu spüren, man hat nicht einmal den Gedanken an den Boden zur Verfügung.)

Im Gerichtssaal sitzen zwei Zuschauerinnen und ein Zuschauer. Ich weiß nicht, was sie mit dem polnischen Jungen zu tun haben, sie sind Deutsche. Der Richter begründet das Todesurteil. Der Junge hätte zwar nicht gewollt, daß durch die Brandlegung Menschen zu Schaden kommen, was auch nicht geschehen sei, jedoch hätte er dieses Risiko in Kauf genommen. Der polnische Gerichtsdolmetscher übersetzt dem Jungen das Urteil. Er sagt nur zwei Silben und sieht ihn dabei grimmig an. Wie wenn er es dem Jungen übel nehmen würde, daß er ihn in die schwierige Lage gebracht hat, ihm sein Todesurteil mitteilen zu müssen. Der Kehlkopf des Jungen geht zweimal auf und ab. Er dreht sich zum Pflichtverteidiger um, der hinter ihm sitzt, hinter und über ihn - er ist versteinert und stumm. Dann legt er seinen Kopf auf seine übereinander verschränkte Unterarme.

Einmal auf einer Insel des Nicht-Schweigens sagt Erika, daß sie kein Kind sei, und ich will diesen Gedanken nicht zu Ende denken.

Im August hat sich Erikas Freund erhängt. Neun Monate nachdem sie sich getrennt hatten. Erika und Günther waren elf Jahre zusammengewesen. Jetzt ist es November.

Ich habe den Günther nie gesehen. Jedesmal, wenn ich ihn mir vorstelle, sehe ich ihn auf einem Schwarzweiß-Foto. In meiner Vorstellung hat er dunkle, gelockte Haare, ist mittelgroß, schlank und hat einen Pullover mit V-Ausschnitt an, hat feine, weiche Gesichtszüge und trotzdem erinnert er mich an den Vater, wie ich ihn von Schwarzweiß-Fotografien aus den Fünfzigerjahren her kenne, als er mit siebzehn nach K. auswanderte.

Im Juli hat Erika Christine kennengelernt. Sie erzählt mir viel von Christine, aber ich kann mir kein Bild von ihr machen. Ich erfahre, daß Christine aus Wien stammt und – schon seit Jahren - in München lebt, Christine ist Filmemacherin. Die Erika und die Christine sind jetzt ein Liebespaar. Sie hätte sich, sagt Erika, schon immer zu Frauen hingezogen gefühlt, diese ihre Liebe aber niemals gelebt.
"Früher", sage ich," hast Du Dein Lesbisch-Sein also nicht ausgeübt." Erika sieht mich an, als hätte ich ihr ins Gesicht geschlagen, sodaß auch ich mich ins Gesicht geschlagen fühle. "Früher hast Du Dein Lesbisch-Sein also nicht gelebt", sage ich, und wiederhole noch zweimal: Nicht gelebt. Nicht gelebt.

Ich habe Erika im August angerufen, zwei Tage nach Günthers Begräbnis. Sie hatte nicht traurig geklungen. "Ich bin überdreht", sagte sie, "Ich begreife die Zusammenhänge nicht." Und auch, daß sie sich in der Hölle fühle und im Himmel - wegen Christine.

Günther hat Erika einen Silberbarren hinterlassen. Er hatte - mit einigem Erfolg - ein Fotolabor betrieben, weil er von seinen künstlerischen Fotografien nicht leben hatte können. Den Silberbarren hatte er aus dem im Labor verwendeten Silbernitrat, hergestellt - und als Briefbeschwerer benützt.

Der polnische Junge nimmt seine Henkersmahlzeit ein. Der Wärter, ein älterer Mann mit einem weichen, teigigen Gesicht, sitzt ihm schräg gegenüber. Er könnte sein Großvater sein. "Warum ich tot?", fragt der polnische Junge den Wärter , "Ich erst siebzehn. Ich nix gehabt vom Leben. Wenn ich vierzig und dann tot- das guuut, aber ich siebzehn, erst siebzehn."
"Das stimmt.", sagt der deutsche Wärter, "Willst Du eine rauchen?"










Ich hätte mir vorstellen können, daß Erika, immer wenn sie von Günthers Silberbarren spricht, den Silberbarren, der Günther als Briefbeschwerer gedient hat, in den Mund nimmt, in ihren trockenen Mund, und daß der Silberbarren, den Günther aus dem Silbernitrat seines Labors hergestellt hat, in Erikas heißen und trockenen Kindermund schmilzt, so daß das heiße, flüssige Silber aus ihren beiden Mundwinkeln herausfließt und zwischen ihren Mundwinkeln und ihrem Kinn zu zwei klumpigen Silberstreifen gerinnt, weil es draußen kalt ist.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

lieber sama,
die im text angeführte philosophische parabel verfolgt mich. innerhalb von zwei tagen kommt sie mir nun das zweite mal unter. ich meine die, in der die überraschende hinrichtung an keinem wochentag der woche durchgeführt werden kann, weil sie dann nicht überraschend wäre. ich lese gerade von juli zeh 'spieltrieb' und auch in diesem roman wird mit derselben überlegung ein überraschungsbesuch ad absurdum geführt.
weißt du oder sonst jemand von wem diese überlegung ursprünglich stammt? oder ist sie, wie ein sprichwort niemandem zuzuordnen?